Am 31. Januar 2023 fand die bundesweite Wohnungslosenberichterstattung statt. Zu diesem Anlass, haben wir als „Zeit der Solidarität“ beschlossen, die Forderungen obdachloser Berliner:innen in Berlin mit drei öffentlichen Aktionen in den Fokus zu rücken.
Alle unsere öffentlichen Aktionen waren sehr partizipativ: Ihr habt viel Unterstützung und Interesse an den Themen gezeigt, die wir gemeinsam angegangen sind und weiter angehen werden.
Die erste Veranstaltung war die Kundgebung Wohnungen statt Heime! in der Wilmersdorfer Straße, wo am 31. Januar, trotz des schlechten Wetters, über 30 Personen teilnahmen und auch Passanten spontan stehen blieben, um den Beiträgen zu zu hören.
Wir möchten uns bei all den Menschen bedanken, die trotz des Regens gekommen sind, um mit uns zu demonstrieren und unseren Kampf für die Rechte von obdachlosen Berliner:innen zu unterstützen. Noch mehr möchten wir den obdachlosen (oder ehemalig obdachlosen) Personen selbst danken, die sich entschlossen haben, sich zu beteiligen, ihre Erfahrungen öffentlich zu teilen und ihre Forderungen laut zu äußern.
„Die Lösung der Obdachlosigkeit ist ein Gewinn für alle Bürger:innen, nicht nur für die von Obdachlosigkeit Betroffenen“ sagte Asya, aktuell obdachlos, bei der Kundgebung.
Die Unterbringung einer obdachlosen Person in einer Notübernachtung kostet 780 € pro Monat. Dabei erhält die Person nicht mehr als 8 Quadratmeter Platz in einem Zimmer, was oftmals auch noch mit mehreren Personen geteilt werden muss. Ein Unding! Daher fordern wir “Wohnungen statt Heime”!
Mehr als 50 Personen kamen, um die Erfahrungen, Reflektionen und politischen Forderungen von drei unserer Aktivist:innen zu hören, die Erfahrung mit Obdachlosigkeit haben oder derzeit obdachlos sind: Koray, Dietlind und Uwe Mehrtens.
In einer von Bahar Sanli (Gemeinwesenarbeiterin, Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. und Aktionsbündnis Solidarisches Kreuzberg) moderierten Diskussion tauschten sich die Betroffenen mit Kati Becker (Berliner Register) und Paul Neupert (BAG Wohnungslosenhilfe.) aus. Die Historie von Obdachlosenfeindlichkeit wurde skizziert und die Internalisierung und Normalisierung von Gewalt und Diskriminierung gegen obdachlose Menschen wurde auf mehreren Ebenen analysiert.
Unsere Gäste betonten mehrfach die Rolle der Bürger:innen mit Obdach bei der Bekämpfung von Obdachlosenfeindlichkeit und der Obdachlosigkeit selbst. „Es muss die Masse sein, die sagt, dass es ein Recht auf Wohnen geben muss“, sagt Dietlind, „es muss die Mehrheit sein, die sich dem entgegen setzt”.
Es darf nicht länger so sein, dass obdachlose Menschen als Menschen zweiter Klasse oder als Nicht-Menschen betrachtet werden, ohne berücksichtigt und wahrgenommen zu werden. Das Leiden von obdachlosen Personen darf nicht normalisiert werden, denn dabei handelt es sich um die Verletzung von Menschenrechten.
Die Diskussion bewegte sich von den schlechten hygienischen Bedingungen und der fehlenden Privatsphäre in den Notübernachtungen bis hin zur Diskriminierung von queeren Menschen, die im Hilfesystem nicht den sicheren Raum haben, den sie haben sollten: „So wie Fraueneinrichtungen müssen auch queere Notübernachtungen geben, wo wir wissen, dass wir keine Homophobie erleiden werden“, sagte Koray.
Paul Neupert sagte, obdachlose Personen nehmen die Gewalt oft als selbstverständlich hin und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Die ständige Schutzlosigkeit, fehlende Rückzugsorte, die Scham und Internalisierung machen es betroffenen Menschen besonders schwer Vorfälle zu melden und sich zu wehren. Es ist aber wichtig, dass Vorfälle, zum Beispiel beim Berliner Register, gemeldet werden. Kati Becker wies darauf hin, dass „die Existenz von Diskriminierung nur dann in Betracht gezogen wird, wenn sie auf dem Papier steht, ansonsten wird sie von der Mehrheit als nicht existent angesehen. Deshalb versuchen wir auch, Beschwerden über erlittene Gewalt und Diskriminierung zu registrieren“. Sie sagte weiter „Es müssten nicht mal viele sein […] wenn nur 3 obdachlose Personen anfangen würden, ihre Vorfälle zu melden, würde sich die Statistik verdreifachen”. Im Moment, schaffen es nur die “krassen” Fälle in die Statistiken, betonen Kati Becker und Paul Neupert, das ist aber nur die Spitze des Eisberges, und “banalisiert das Problem” eher. Sowohl quantitative als auch qualitative Statistiken sind daher dringend erforderlich, um dem Problem die verdiente Aufmerksamkeit zu verschaffen, betont Neupert.
„Ich möchte ein starkes Netzwerk von Kontakten aufbauen und es nutzen. Wir müssen die bereits vorhandenen Angebote wie das Berliner Register oder die Stadtteilzentren nutzen und stärken“, sagt Uwe Mehrtens, „Ich bin zuversichtlich.“
Die Winter-Aktionswoche der “Zeit der Solidarität” endete am 2. Februar mit einem weiteren wichtigen Diskussionsabend: Privilegierte Sackgasse, bei dem wir gemeinsam über die Notlage von Bürger:innen aus EU-Ländern die in Berlin obdachlos sind diskutierten, moderiert von Daniela Radlbeck, der Referentin Wohnungsnotfallhilfe und Wohnungspolitik (Der Paritätische Berlin).
Wie unser Projektleiter Bálint Vojtonovszki in seiner Einführung ausführte, waren in den Interviews, die wir im Rahmen der “Zeit für Gespräche” geführt haben, fast die Hälfte unserer Gesprächspartner:innen EU-Bürger:innen und ein Drittel der Befragten sprach kein Deutsch. Unter den obdachlosen Menschen sind diese Personen die unsichtbarsten, wie ihre Abwesenheit in den bundesweiten Daten zeigt, im Gegensatz zu den in der 2020 Nacht der Solidarität erhobenen Daten, in der EU-Bürger:innen in weitaus größerer Zahl zu finden waren.
Aus diesem Grund haben wir Anna, Dorel Alexoaie und Asya Davidova eingeladen; drei EU-Bürger:innen (aus Polen, Rumänien und Bulgarien), die derzeit obdachlos oder ehemals obdachlos sind.
Nach mehreren Jahren ohne Obdach war es für Anna, die jetzt eine Wohnung hat, entscheidend, eine Sozialarbeiterin kennenzulernen, die ihr beim Schreiben und Einreichen von Unterlagen beim Jobcenter und bei den notwendigen Übersetzungen akribisch half. Selbst mit der Hilfe, die sie nach vielen Jahren finden konnte, war der Prozess noch immer langwierig und strukturell schwierig.
Dorel Alexoaie, jetzt Sozialhelfer in der Tagesstätte SeelingTreff, berichtet ebenfalls, dass die Unterstützung, die er von der Leitung der Einrichtung erhielt, entscheidend dafür war, dass er Dank eines Programms des Solidarischen Grundeinkommens wieder ein stabiles Leben führen und dort arbeiten konnte. „Auf diese Weise habe ich eine vorteilhafte Perspektive für meine Arbeit, denn ich kenne die Erfahrungen unserer Gäste sehr gut, ich war selbst schon in ihrer Lage.“
“Es ist schwierig von Obdachlosigkeit raus zu gehen, du kannst es nur mit Hilfe und Kontakt, allein schaffst du es nicht”, so Dorel Alexoaie.
Neben Altersdiskriminierung und Xenophobie beschrieb Asya Davidova auch die wirtschaftliche Absurdität des obdachlosen Hilfesystems: „Alle diskriminierten Menschen, auch wenn sie aus der ganzen Welt kommen, brauchen eine Arbeit nach ihren Stärken, einen Integrationskurs und einen Mindestlohn“, außerdem sagte sie „ein Bett für eine Person in einem Raum mit 8 bis 15 Personen und kostenloses Essen für so viele Menschen ist teurer als der Minijob-Lohn und der Mindestlohn. Niemand profitiert von dieser Bosheit, weder der Staat noch die obdachlosen Menschen.“
Eines der wiederkehrenden Themen der Diskussion war der erschwerte Zugang zu effektiven Unterstützungsangeboten durch Sozialarbeiter:innen und das Hilfesystem, insbesondere durch Sprachbarrieren.
Svenja Ketelsen brachte ein, dass es zwar inzwischen viele Programme gäbe, wie die BEMA (Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit), Frostschutzengel und die MOCT – Berliner Brücke zur Teilhabe der GEBEWO – Soziale Dienste – Berlin, aber der Bedarf an Beratung und Begleitung sei riesig. “Wir konnten kürzlich unser Team verdreifachen, aber das Telefon klingelt immer noch ständig und alle Mitarbeitenden sind voll beschäftigt […] in der Community sprechen sich diese Projekte schnell rum.” Es könne in Berlin jedoch gar nicht genug Beratung dieser Geben geben, dazu gibt es gar nicht genug mehrsprachige Sozialarbeiter:innen, flächendeckend müsste sich daher das Hilfesystem besser an die mehrsprachige Zielgruppe anpassen. “Es müsste zum Beispiel Schulungen geben, um Mitarbeitende überhaupt über die komplizierte Rechtslage von EU-Bürgerinnen aufzuklären”, auch technische Lösungen zu Sprachbarrieren müssten öfter eingesetzt werden um den Bedarf zu decken. Auf Bundeseben müsse man an die Gesetzgebung ran, um den Leistungsausschluss von EU-Bürger:innen zu beseitigen, so Ketelsen.
Aus dem Publikum betonte die Abgeordnete der Linken, Elke Breitenbach, dass in diesem Fall „die Gesetze besser sind als die Realität“ und eröffnete damit eine Diskussion darüber, was das Land Berlin tun muss, damit die bereits bestehenden Ansprüche und Angebote tatsächlich auch genutzt werden können. Das Recht auf eine:n Dolmetscher:in, zum Beispiel, sollte in jedem Amt beansprucht werden können.
Die 25 Zuhörer:innen im Publikum nahmen mit großem Interesse an der Diskussion teil und betonten, dass alle Fachleute des Sektors diese Art von Zeugnissen hören sollten.
Bálint Vojtonovszki, Projektleiter von Zeit der Solidarität, schloss mit demselben Gedanken ab: Der Abend sei eine Gelegenheit, sich Zeit zum Zuhören zu nehmen, die gleiche Zeit, die sich auch Ämter und Einrichtungen nehmen sollten, um auf die wirklichen Bedürfnisse der Betroffenen zu hören.