Internationale Beispiele
Mit der Erhebung der Anzahl obdachloser Menschen folgt Berlin internationalen Beispielen. Denn in vielen Städten weltweit werden seit Jahren Erhebungen durchgeführt, um das Ausmaß von Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit in den jeweiligen Städten zu erfassen. Die Zählungen und Befragungen finden in den meisten Städten in einer Nacht im Januar statt. Hier ein kurzer Einblick in die unterschiedlichen Herangehensweisen dreier Städte:
Paris, Frankreich: La Nuit de la Solidarité
In Paris läuft die Erhebung unter dem Namen „La Nuit de la Solidarité“ und sie fand mit diesem Jahr schon zum 5. Mal statt. Auf der Pariser Erhebungsmethode basiert auch das Berliner Konzept der ersten Erhebung im Januar 2020 und der zweiten am 22. Juni 2022. Neu war dieses Jahr in Paris, dass die Erhebung auf die Metropolregion ausgeweitet wurde. Zehn Gemeinden von „Grand Paris“ nahmen Teil.
Auch in Paris, ist es das Ziel, die ungefähre Anzahl der Menschen ausfindig zu machen, die ohne stabile Unterkunft leben und ihre Profile, Hintergründe und vor allem ihre Bedürfnisse besser kennenzulernen. Eines der Mittel zum Zweck: öffentliche Hilfen besser an die Bedarfe anzupassen. Dieses Jahr wurde die „La Nuit de la Solidarité“ auch mit der Erfassung von Obdachlosen im Rahmen der allgemeinen Volkszählung (von Insee, das nationale „Institute of statistics and economic studies“) zusammengelegt. Das heißt, neben den Fragebögen der „NdlS“ wurden auch die Erhebungsbögen dieses Nationalen Instituts mit einbezogen.
Für interessierte und motivierte Pariser stehen nach der Nacht die Türen der „La Fabrique de la Solidarité“ offen. Hier können sie sich über andere Projekte und Engagement Möglichkeiten informieren, um ihren obdach- und wohnungslosen Nachbarn zu helfen.
Weitere Informationen zur „Nuit de la Solidarité“ sind hier zu finden: https://www.paris.fr/pages/nuit-de-la-solidarite-2022-19971

Boston, USA: Boston Homeless Census
Auch in Boston wird jährlich im Januar der “Boston Homeless Census” durchgeführt - und das schon seit 40 Jahren! In Boston werden in der Erhebung alle Formen der Wohnungslosigkeit erfasst. Diese jährliche Datengrundlage scheint sich für die Entwicklung effektiver Maßnahmen zur Bekämpfung von akuter Obdachlosigkeit bewährt zu haben. In Boston sind "nur" 2% aller wohnungslosen Menschen obdachlos, also auf der Straße. Das ist sehr wenig im Amerikanischen Vergleich, denn der Durschnitt liegt bei 37%. Hier ein Artikel zum Nachlesen: https://www.wbur.org/.../homeless-census-boston-pandemic....
Die Erhebung in Boston wird außerdem mit einer ausführlichen Befragung der angetroffenen obdachlosen Personen verknüpft. Fragen wie: “Was ist Ihre Geschichte mit Obdachlosigkeit? Welche Hilfen haben Sie erhalten? Was hatte Covid-19 für Auswirkungen auf Ihr Leben?”. Hier zu den Ergebnissen aus Boston in 2021: https://www.boston.gov/.../2021/04/2021%20Census%20Memo.pdf
Um die Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren findet in Boston, als Partnerveranstaltung, jedes Jahr im Februar der Winter Walk statt. Die ganze Stadt ist dazu eingeladen, um in Solidarität mit wohnungslosen Menschen zusammen durch die Stadt zu spazieren. Am Start- und Zielort kommen wohnungslose Menschen zu Wort, um ihre Geschichten zu teilen, und stadtweite Hilfsorganisationen stellen sich vor, um Menschen aufzuklären und zu engagieren!


New York, USA: HOPE (Homeless Outreach Population Estimate)
In New York City läuft die Erhebung unter dem Namen HOPE - Homeless Outreach Population Estimate und wird vom Department of Homeless Services (DHS) New York durchgeführt. HOPE findet seit 17 Jahren, also seit 2005 jedes Jahr im Januar statt. Wie auch bei der Erhebung in Berlin werden für HOPE Tausende Freiwillige (in 2020 waren es ungefähr 2,500 New Yorker) engagiert, und zusätzlich hunderte Sozialarbeiter:innen und Mitarbeitende des DHS rekrutiert. Die Erhebung findet auch nachts, zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens statt.
Die Methodik der Datenerhebung ist allerdings etwas anders als die, die in Berlin oder Paris angewendet wird. Bei HOPE in New York werden gezielt alle Bereiche der Stadt durchlaufen von denen die Stadt weiß, dass sich obdachlose Menschen dort aufhalten, also die dicht besiedelten Bezirke und das gesamte U-Bahn Netz. Hinzukommen nach dem Zufallsprinzip ausgewählte, dünn besiedelte Bereiche. Die Ergebnisse aus diesen Bereichen werden dann genutzt, um zu schätzen wie viele weitere obdachlose Menschen sich wohl in dieser Nacht in den nicht abgelaufenen Bereichen der Stadt aufgehalten haben. Diese Methodik scheint, vor allem mit Hinblick auf die enorme Fläche der Stadt und die zum Teil sehr dünn besiedelten Außenbezirke der Stadt, sinnvoll.
Anders ist auch, dass die Erfassung demografischer Daten der angetroffenen Menschen (z.B. Alter und Geschlecht), ohne deren Einverständnis erfolgen kann. In New York lautet die Anweisung laut der Befragungsbögen beim Datensatz "Altersgruppe": "Ask if awake, observe (to your best judgment) if asleep." (Übersetzung: Nachfragen wenn wach, Beobachten (nach bester Beurteilung) falls schlafend. Beim Geschlecht und der Ethnie der angetroffenen Person wird sogar nur nach Beobachtung erfasst und gar nicht nachgefragt, selbst wenn die Person wach ist. Ein weiterer Unterschied zu Berlin und Paris ist, dass an HOPE keine sozial-kulturellen Veranstaltungen zu den Themen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit geknüpft sind.
Zu den Ergebnissen der Erhebung in New York:
Bei einer Einwohnerzahl von 8,8 Millionen Menschen und im Vergleich zu anderen Städten, scheint das Ergebnis, vom Januar 2021 von 2,376 zahlenmäßig erfassten Menschen die auf der Straße nächtigten, nicht besonders viel. Der New Yorker Kontext ist aber ein besonderer, denn in New York gilt das umstrittene “right to shelter”, also das Recht auf eine Unterkunft - nicht aber auf Wohnraum. So gibt es in New York ein sehr großes - und viel kritisiertes - “shelter system”, in dem, laut der Coalition for the Homeless New York im Januar 2021 (zum Zeitpunkt der letzten Erhebung) knapp 56,000 Tausend Wohnungslose Menschen unterkamen. Mehr dazu hier: https://www.coalitionforthehomeless.org/facts-about.../. Auf diese Zahl sollte man sich also beziehen, wenn man den Notstand der Wohnungslosigkeit in New York thematisieren möchte.
Hier lassen sich die New Yorker Ergebnisse der Erhebung aus 2021 nachsehen: https://www1.nyc.gov/.../downloads/pdf/hope-2021-results.pdf.
Wegen Corona, wurde in New York die Erhebung in 2021 nicht mit tausenden Freiwilligen sondern nur mit den von der Stadt Angestellten und statt in einer, über vier Nächte hinweg, durchgeführt. So auch bei der Erhebung in 2022, die am 25. Januar beginnt.
In den großen Amerikanischen Metropolen wird die Datenerhebung seit Jahren vom U.S. Department of Housing and Urban Development (HUD) eingefordert und ist unter dem McKinney-Vento Homeless Assistance Act von 1987 an staatliche Gelder für die Finanzierung der Wohnungsnotfallhilfe geknüpft. Wer Daten liefert, um das Ausmaß von Obdachlosigkeit besser darzustellen, kriegt Zuschüsse für die Bekämpfung. Eine gängige Kritik an dem McKinney-Vento Homeless Assistance Act ist allerdings, dass sich die damit finanzierten Programme auf Notfallhilfen beschränken: “[...] it responds to the symptoms of homelessness, not its causes.” (Laut der Einschätzung der National Coalition for the Homeless: https://web.archive.org/.../publications/facts/McKinney.pdf)